[ Lesegelaber ] Über die Leserille

Lesegelaber : Über die Leserille
Horrorvorstellung oder ganz normal?

Erschrockenes Seufzen, weit aufgerissene Augen, vielleicht sogar ein leiser Schrei des Entsetzens...  Gefolgt von einem vorwurfsvollem "Wie konntest du nur?!" 


Diese Reaktion legt nahe, man habe etwas ganz, ganz Schreckliches, moralisch Verwerfliches getan (wie vielleicht einem Kindergartenkind den Lutscher geklaut oder einen niedlichen Welpen getreten – mindestens!), aber tatsächlich hat man nur schwungvoll sein Taschenbuch aufgeschlagen und es dabei kräftig gebogen, damit es auch wirklich aufgeschlagen bleibt. Und schon ist es passiert. 

Leserille, die [/'le.se.ril.le/'] 
Ausgeprägter Knick auf dem Buchrücken, der entstehen kann durch: unvorsichtiges Aufschlagen, offen mit dem Buchrücken nach oben Ablegen, beim Lesen oder Durchblättern zu weit Aufdehnen. Warnhinweis: Der Anblick der Leserille löst bei manchen Bibliophilen das LSSS (Libersulcussinus-Syndrom) aus, das sich äußern kann durch Beklemmung, Schnappatmung, Herzrasen oder plötzliche Aggression. 

Ganz sachlich betrachtet ist eine Leserille etwas vollkommen Unbedeutendes: ein Buch kann noch so viele Leserillen haben, es lässt sich trotzdem problemlos lesen. Die Funktion des Buches als Gebrauchsgegenstand, als Speichermedium für das geschriebene Wort, ist also in keinster Weise beeinträchtigt.

Aber wir Vielleser und Buchliebhaber, wir investieren starke Emotionen in die Bücher, die wir lesen, und das macht es vielen (wenn auch nicht allen!) von uns schwer, das gegenständliche Buch vom literarischem Inhalt zu trennen. Die emotionale Reaktion auf die Macht der Worte wird auf die bloße Hülle aus Papier, Leim und Leinen übertragen, und damit erweist es sich als nahezu unmöglich, ein Buch wirklich sachlich zu betrachten und ihm keinen höheren Status einzuräumen als, sagen wir mal, einem Staubsauger oder der Kaffeemaschine. (Wobei ich auch zu meiner Kaffeemaschine eine emotionale Bindung  verspüre.)  

Da wir also über die grundlegendste Bedeutungsebene des Buches als Gebrauchsgegenstand hinausgehen, ist eine Leserille nicht mehr einfach nur eine Leserrille, sondern etwas, das durchaus Auswirkungen haben kann auf unsere Gefühle.  Grob verallgemeinert würde ich sagen, dass die meisten Reaktionen auf eine Leserille eben diese Übertragung von Emotionen gemeinsam haben, aber dennoch sehr unterschiedlich ausfallen können. 

Da es unzählige Arten von Lesern gibt, möchte ich hier nur ein paar Beispiele aufführen: 


I) Der supersorgfältige Leser



Sehr weit verbreitet sind die Leser, die peinlichst genau darauf achten, dass es gar nicht erst zu einer Leserille kommt, indem sie das Buch beim Lesen nur einen kleinen Spalt öffnen und niemals – niemals! – offen hinlegen. Leserillen sind eine Katastrophe, Eselsohren ein Kapitalverbrechen! Früher gehörte ich selber zu dieser Gruppe, deswegen kann ich guten Gewissens behaupten: bequem ist das nicht, und es kann bei einem schweren Wälzer absolut nervtötend sein... Was verspürt man jedoch für ein Gefühl des Stolzes, wenn der Buchrücken 800 Seiten später immer noch tadellos aussieht, wie ungelesen!  Warum tut man sich das aber überhaupt an?

a) "Das arme Buch..." 


Diese Leser gehören zur gleichen Gruppe wie "Wie konntest du nur?!" – sie anthropomorphisieren das Buch, verleihen ihm also menschliche Züge und schreiben ihm Gefühle zu. Und wenn das arme Buch Gefühle hat, dann ist es natürlich auch gemein, ihm wehzutun!

So ganz ernst ist das meist nicht gemeint; man ist sich durchaus bewusst, dass man eigentlich selber unter der Leserille leidet und es dem Buch schnurzpiepegal ist, aber man hat noch andere Gründe.

b) "Sieht das gut aus neben meiner Lieblingstasse?"


Diese Leser verbinden ihre Liebe zum Buch mit ihrer Liebe zur Dekoration und Innenarchitektur. Die Bücher werden nach Farben sortiert und neben Blumen, Schmucksteinen, Funko Pops oder der Lieblingstasse dekorativ drapiert. Oft werden sie kunstvoll fotografiert, mit ausgewogener Beleuchtung und sorgfältiger Nachbearbeitung. Eine Leserille würde sich auf so einem Foto natürlich sehr unschön ausnehmen!

Es klingt vielleicht so, als würden diese Leser das Buch doch wieder reduzieren auf einen bloßen Gegenstand, aber ich denke, es ist schlichtweg ein spezieller Ausdruck für eine große Liebe zur Literatur

c) "Meeeeein Schaaatz..."


Eng verwandt mit Typ b), aber dieser Leser macht keine Fotos, sondern verspürt einfach eine große persönliche Zufriedenheit, wenn alle Bücher im Regal sauber und ordentlich aussehen. 

d) "Der Autor hat so viel Herzblut in das Buch gesteckt..."


Für diesen Leser ist es eine Frage von Respekt und Wertschätzung, das Buch sorgfältig zu behandeln und quasi druckfrisch zu erhalten. Nein, der Autor wird wahrscheinlich nie davon erfahren, aber man selber weiß es, und das ist das Wichtigste.

Ich würde sagen, ich war früher eine Mischung aus a), c) und d). Inzwischen zähle ich mich aber eher zur nächsten Art Leser:

II) Der Leser, der die Leserille zu schätzen weiß



Für diesen Typ Leser ist die Leserille ein Zeichen, dass das Buch ausgiebig gelesen wurde und damit seinen Zweck erfüllt hat und wertgeschätzt wurde, während ein Buch ohne Leserille fast schon vernachlässigt wirkt und ein trauriger Anblick ist. Womöglich finden sich in seinen Büchern auch Eselsohren, Markierungen und Notizen.

Man könnte meinen, dieser Leser wäre weniger oberflächlich aus der Leser vom Typ I und würde stattdessen mehr Wert auf den Inhalt legen. Tatsächlich hat auch er eine emotionale Bindung an das Buch als Gegenstand – nur zeigt er das anders.

Ich denke, man kann nicht sagen, dass einer der beiden Typen ein ernsthafterer / gebildeterer / in irgendeiner Form besserer Leser ist als der andere. Denn auch wenn sich der Umgang mit dem Gegenstand Buch unterscheidet, ist die Liebe zum Inhalt doch vergleichbar. Es gibt supersorgfältige Leser, die nur sehr oberflächlich lesen, und es gibt Leser, denen Leserillen nichts ausmachen, die aber größten Respekt vor dem Inhalt haben, und umgekehrt.

Ich gehöre inzwischen eher zu Typ II als zu Typ I


...obwohl ich das einschränken muss: ich verkaufe ziemliche viele meiner gelesenen Bücher weiter, deswegen lese ich diese nach wie vor supersorgfältig. Aber die, von denen ich schon weiß, dass ich sie behalten will (oder muss, weil es unverkäufliche Leseexemplare sind), werden gnadenlos geknickt, markiert und mit Notizen versehen. Ich liebe es, ein Buch nach einem Jahr wieder in die Hand zu nehmen, und meine alten Markierungen und Notizen zu sehen.

Wie sieht es bei auch aus? Was haltet ihr von Leserillen? Würdet ihr euch einem dieser Typen zuordnen, oder seid ihr ein ganz anderer Typ?  

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